Alpines Grenzregime

Ein erst am 21.02. erschienener Leserbrief vom 18.02.2015 zu einem Bericht vom selben Tage

Leserbrief zur Mitteilung: “Ägypter muss ins Gefängnis” lz 18. Februar 2015

Dass Flüchtlinge wegen ihrer unerlaubten Einreise nicht bestraft werden dürfen, steht im Gesetz und sollte damit allen Polizeibeamten und Staatsanwälten ebenso bekannt sein wie den Strafgerichten. Dem ist leider mitnichten so, wie auch aus den unhinterfragt abgedruckten Pressemitteilungen der Polizeibehörden immer wieder klar wird. Die meisten “erwischten” Flüchtlinge werden in Abwesenheit verurteilt und erfahren oft erst davon, wenn alle Rechtsmittelfristen abgelaufen sind. Die meisten Staatsanwälte und Amtsgerichte machen das Spiel routiniert mit. Wenn sich ein Flüchtling rechtzeitig wehrt und auf das Gesetz hinweist, machen Staatsanwälte und Gerichte schnell einen Rückzieher, denn sie wollen natürlich nicht, dass die rechtswidrige Praxis dokumentiert und öffentlich wird. Ähnlich könnte es auch dem “Ägypter” ergangen sein. Für eine Beurteilung fehlen nötige Fakten im Bericht. Dass ihn aber als Asylbewerber “wegen seiner erneuten unerlaubten Einreise ein weiteres Strafverfahren”erwarten soll, spricht für eine Fortführung der rechtswidrigen Praxis.

Udo Sürer

Bezugspunkt war folgender Bericht vom selben Tage:

Ägypter muss ins Gefängnis

lz 18. Februar 2015

Lindau – Bundespolizisten haben am Montag einen ägyptischen Staatsangehörigen in Lindau festgenommen. Der 29-Jährige hatte bei der Bundespolizei geläutet, um einen Asylantrag zu stellen. Wie sich herausstellte, lag allerdings ein Haftbefehl gegen ihn vor.

Am frühen Montagabend war der Ägypter zum Revier der Lindauer Bundespolizei gekommen. Gültige Ausweispapiere konnte er nicht vorlegen. Er sei mit dem Zug aus Bregenz angereist und wolle nun Asyl in Deutschland, so der Nordafrikaner. Wie die Ermittlungen ergaben, war der Mann bereits im Jahr 2012 unerlaubt ins Bundesgebiet eingereist. Im damaligen Strafverfahren hatte das Amtsgericht Nordhorn eine Geldstrafe in Höhe von 600 Euro festgesetzt. Ersatzweise sah das Urteil eine 60-tägige Haft vor. Der Verurteilte hatte einen Teil seiner Justizschulden beglichen, dann allerdings die Zahlung eingestellt. Seitens der Staatsanwaltschaft Osnabrück war deshalb Haftbefehl erlassen worden. Laut Fahndungsnotiz blieb ein Betrag von insgesamt 490 Euro offen.

Diesen konnte der unerlaubt Eingereiste auch jetzt nicht aufbringen. Die Beamten lieferten ihn daher in die Justizvollzugsanstalt Kempten ein. Hier wird er die nächsten 43 Tage verbringen müssen. Wegen seiner erneuten unerlaubten Einreise erwartet ihn ein weiteres Strafverfahren.

Am 20.02.2015 hatte die Lindauer Zeitung folgende Reportage eingeschoben:

Lindauer Richter wollen keine Haft für Flüchtlinge

Verhandlungen wegen unerlaubter Einreise erfolgen am Amtsgericht oft im Minutentakt

Lindau – Der 22-Jährige Syrer hat eine weitere Etappe auf seiner Flucht hinter sich. In Lindau erreicht er deutschen Boden. Doch kurz nach der Grenze stoppen Beamte der Bundespolizei das Auto, in dem Faris M. zusammen mit acht weiteren Flüchtlingen aus Italien gekommen ist. Der 22-Jährige kann kein Visum vorweisen – so wie keiner der Flüchtlinge. Nach EU-Recht hätte er in Italien bleiben müssen. Doch das überwachen die dortigen Beamten nicht. Und so macht sich Faris beim Grenzübertritt nach Deutschland einer “unerlaubten Einreise” schuldig.

Im Minutentakt verhandeln Richter am Amtsgericht Lindau immer wieder über Flüchtlinge, die unerlaubt nach Deutschland eingereist sind. Fast wöchentlich stehen solche Verfahren auf den Sitzungskalendern. Dabei wollen die Richter die Flüchtlinge eigentlich vor Schlimmeren bewahren. Wie im Fall von Faris M.

Eigentlich muss Faris einen Asylantrag stellen, sobald er nach Deutschland kommt. Das aber will er nicht. Er möchte weiter nach Schweden – wie viele Syrer, für die Deutschland nur ein weiteres Transitland ist. Denn in Skandinavien leben inzwischen viele der Bürgerkriegsflüchtlinge.

Die Bundespolizei meldet die unerlaubte Einreise von Faris an die Staatsanwaltschaft in Kempten. Diese eröffnet ein Verfahren. Normalerweise wird das dann eingestellt, sobald sich ein Flüchtling bei der zuständigen Stelle in München gemeldet und einen Antrag auf Asyl gestellt hat. Da Faris das nicht tut, geht das Prozedere weiter. Die Staatsanwaltschaft beantragt nun beim zuständigen Amtsgericht Lindau einen Strafbefehl. Jetzt kommen die Richter ins Spiel.

Fatale Folgen für die Flüchtlinge

Sie sind sich, so deren Direktor Paul Kind, einig, dass es einen solchen Strafbefehl nicht geben soll. Denn die Folgen wären für den Flüchtling unter Umständen fatal: Da der Strafbefehl ihn persönlich nie erreicht, wird er nach zwei Wochen gültig. Kommt der Flüchtling in eine Polizeikontrolle und kann die Strafe nicht bezahlen, muss er ersatzweise die Haftstrafe absitzen – im typischen Fall 20 Tage hinter Gitter.

Um diesen “Automatismus”, der laut Kind der Flüchtlingssituation nicht gerecht werde, zu vermeiden, unterzeichnen die Lindauer Richter den Strafbefehl nicht. Es kommt zur Hauptverhandlung. Hier erscheint der Flüchtling nicht, da er im Regelfall von dem Verfahren gar nichts weiß: Eine Anschrift von ihm ist nicht bekannt und er kann folglich nicht zur Verhandlung geladen werden. Für solche Verhandlungen setzt das Amtsgericht daher meist nur eine Minute Dauer an. Erst kürzlich konnte Richterin Ursula Brandt so innerhalb von zehn Minuten zehn Verfahren verhandeln.

In der Verhandlung wird festgestellt, dass der Angeklagte nicht da ist und so beschließen die Lindauer Richter eine vorübergehende Einstellung des Verfahrens. Das hat zur Folge, dass die Flüchtlinge zwar weiterhin zur Fahndung ausgeschrieben sind. Werden sie kontrolliert, wird ihre Adresse festgestellt – mehr aber auch nicht. Denn eine offene Strafe gibt es nicht. Das Verfahren kann dann wieder aufgenommen und neu verhandelt werden.

Zu einem solchen Fall ist es allerdings in Lindau bislang nicht gekommen. Denn üblicherweise melden sich Flüchtlinge in München als Asylbewerber – oder reisen weiter in ein Drittland. So wie Faris, der inzwischen in Schweden angekommen ist und dort Asyl beantragt hat.

Zitat Ende

Wenn das kein Erfolg ist?! Die Lindauer Praxis ist lobenswert, aber nicht repräsentativ für Bayern (von Baden-Württemberg, Flughafen Echterdingen => Amtsgericht Nürtingen berichten Kollegen teilweise noch Schlimmeres). Ich habe Gegenbeispiele aus Südostbayern, dort wurde das Verfahren nach Asylantragstellung (Schutzbegehren wurde im Übrigen bereits gegenüber der Polizei geäußert) gerade nicht eingestellt. Offen bleibt in dem Bericht, ob wenigstens im gesamten Bezirk der Staatsanwaltschaft Kempten ein Nachdenken stattfindet, und die Bundespolizei mit Inspektion Fahndung auch aufhören mit der Praxis, routinemäßig sog. Zustellungsbevollmächtigte zu kreieren, die nie Kontakt zu den Betroffenen aufnehmen. Hab ich die Recherche jetzt angestoßen oder ist das zeitliche Zusammentreffen ein Zufall??
Fragt sich
Udo Sürer